Wolkenmythos
Ich weiß eine Schenke, ich weiß ein Haus
Mit schön erleuchteten Sälen;
Doch wilde Gesellen gehen ein und aus,
Und manchmal, gar manchmal gibts Zank und Strauß,
Mit Poltern und Wettern und Schmälen.
Doch wann zu gewaltig tobt der Rumor
Und Alles geht drüber und drunter,
Der Herbergsvater die Faust reckt vor,
Packt diesen und jenen der Schreier am Ohr,
Wirft ihn die Treppe hinunter.
Mit Fluchen und Wettern und manchem Ach
Die wilden Gesellens sich trollen;
Doch rings um die Schenke noch lange hernach
Verhallet, verstummet nur allgemach
Der Untenstehenden Grollen. –
Ein Fürst mit Gefolge, der naht dem Palast –
Mit dem befehlenden Worte
Mahnt der Meister die Diener zur Hast:
„Das blaue Zimmer! – Dem Ehrengast
Die siebenfarbene Pforte!“
Soll ich dir noch mehr und noch Ernsteres erzählen von der Wolkenherberge der Seele? – Auch von der rollenden See und den Geistern der Wellen des Meeres? – Wohlan: Vier Fünftel deines Wesens haben schon tausendmal in ihr eingekehrt; vier Fünftel deines Wesens eine lange Reise gemacht, eine Reise quer über das Meer, und in dessen Kristallpalästen und Korallengärten gar oftmals übernachtet, – auch mit den Geistern der Tiefe so nebenbei Freundschaft geschlossen. – Aber so die Schlachtfelder sich röten vom Blute der Erschlagenen, und so das Unrecht und die Gewalttat allerorten den Sieg gewinnt, schaut der Vater der Herberge betrübten Herzens hernieder und spricht zu den Wolken: Hüllet die Erde in Nacht, auf dass ich ihr Elend und ihren Jammer nicht mehr sehe! – Und die in den Winden sind, wehklagen in verlorener Klage und heulen in ohnmächtigem Zorn, weil die, auf die sie sich stürzen wollen, nicht zu erreichen sind, und die in den Wolken sind, tragen Leid und weinen, dass es einen Stein erweichen könnte. – Und zahllose Schatten sind es, die den Thron Odins umstehen und Sühne heischen:
Später Frühling.
Mein Vater! Die Nebel feuchten
Dir Locken und das Gesicht.
Mein Vater! Das ist das Leuchten
Des wahren Frühlings noch nicht.
Es stellen zahllose Schatten
Sich zwischen Erde und Licht,
Sich zwischen Sonne und Matten,
Menschen und Odins Gesicht. –
Doch seh ich von meinem Sitze,
Dem trauten, mein lieber Sohn,
So manchmal zwischen der Ritze
Der Wolken Gott Odins Thron.
Nach Odins goldenen Hallen,
Nach seinem Throne so klar,
Die Erdgepeinigten wallen
In dichtgesammelter Schaar.
Sie heischen rächend Vergelten
Und drängen sich um den Saal
Gott Odins mit dumpfem Schelten,
Und fordern Rache für Qual.
Erdmutter zürnet nicht minder,
Erdvater spricht also Recht:
Die Lüfte seien nicht linder,
Bis diese Schatten gerächt.
Aber wie würde es gehen dieser Erde, wenn der Lenz, der Qual und der Gewalttat wegen, nur drei Jahre nacheinander ihre Gefängnistore nicht mehr öffnete:
Ja wahrlich Lenz! Ja wahrlich! Wenn dein Finger
Entvölkerte nicht diesen Totenzwinger,
Das Erdgehäuse längst wär überfüllt,
Von allen Schrecken ringsum eingehüllt.
Der Elemente wildes Toben hätte
Zu Schutt zermalmt längst jede Menschenstätte,
Die Winde, mit den Wogen im Verein,
Sie brächten dies zuwege schon allein.
Ein Eishauch hätte überstarrt die Fluren
Und ausgetilget alle Lebensspuren;
Die Erde wäre längst wie ihr Trabant
In eine Gletscherwiese umgewandt.
Ja wahrlich Lenz! Ja wahrlich! Wann du nicht
Entführtest stets die Schattenwelt zum Licht,
Ins Ungeheure wäre angewachsen
Die Schuld der Erde und ihr Fluchgewicht:
Dass nimmermehr der Erde heilge Achsen
Aushalten könnten die gewaltge Last,
Und sie als glas- und steingewordner Gast
Glanzvoll und silbern rollte hin die Kreise,
Als stolzer Ball in längst gewohntem Gleise,
In fiebernder Geschwindigkeit und Hast,
Bis sie gezweit, gedreit, geschwaderweise
In endlicher Zerstäubung fände Rast.