Das Universum entwickelt sich – woher, wohin und vor allen Dingen WARUM? (2)

 Fast alle Mutationen werden als nutzlos oder gar schädlich verworfen. Wie könnte es bei einem Zufallsangebot anders sein. Ihre Träger gehören nicht zu den Eltern der nachfolgenden Generationen. Dann und wann aber (und jedenfalls, wie experimentell erwiesen, häufiger, als unser »gesunder Menschenverstand« es sich träumen läßt) taucht eine Mutation auf, die sich bewährt, weil sie einen vielleicht nur winzigen Überlebensvorteil verschafft. An ihr wird dann festgehalten. Sie geht in den Genpool, den der jeweiligen Population gemeinsam eigenen (da zwischen ihren Mitgliedern durch geschlechtliche Fortpflanzung ausgetauschten und durchmischten) Erbbesitz über. Die Gesamtheit der im Verlaufe stammesgeschichtlich relevanter Epochen in dieser Weise übernommenen Mutationen prägt schließlich das Erscheinungsbild der Mitglieder einer bestimmten Art.

 

Wer das australische Beispiel durchdenkt (die vergleichende Zoologie hat eine Vielzahl analoger Fälle aufgespürt), erkennt sofort, wie Zufall und Notwendigkeit hier einander in die Hände spielen. Die – zufallsgeborenen – Mutationen schaffen die für jegliche Anpassung unentbehrliche Plastizität, und die durch die Besonderheiten der Umwelt vorgegebene Ordnung spielt die Rolle der prägenden Form. Es war ein Zufall, der die australischen Beutler das Tertiär überleben ließ, nichts als ein geologischer Zufall. Und ihre Weiterentwicklung verdankten sie, wie alle Lebensformen, dem ununterbrochenen Spiel des molekularen Zufalls in ihren Erbträgern. Was die Richtung jedoch anging, in der sie sich weiterentwickelten, hatten sie kaum eine Wahl. Die Erde war schon ziemlich alt und in ihren Eigenschaften festgelegt. In Australien wie auch sonst auf der Erde stellten sich, wenn man überleben wollte, praktisch die gleichen Aufgaben. Gleiche Aufgaben aber erfordern die gleiche »Ausbildung«, auch die gleiche Ausbildung von Körperbau und Verhaltensweisen. Daher entstanden in dem isolierten Australien ohne jegliche Querverbindung zur Evolution auf den übrigen Kontinenten wölfische, dachsartige, maulwurfähnliche und bärenhafte Lebewesen.

 

Was ergibt sich daraus nun für unsere Existenz? Wie »notwendig« (unausweichlich) war unser Auftritt auf der Erde? Die konkrete Ausbildung unserer heute von uns (sehr zu Unrecht) für selbstverständlich gehaltenen Erscheinungsform? Eine präzise Abschätzung ist nicht möglich. Wir sind außerstande, ein Maß für die Freiheit anzugeben, für den Spielraum an historisch offenstehenden Möglichkeiten, der am Anfang der Entwicklung unseres Geschlechts bestand. Die Schwierigkeit beginnt ja schon bei der Frage, auf welchen Zeitpunkt wir diesen Anfang verlegen wollen. Auf die Zeit vor vielleicht 100 000 Jahren, in der unsere Urahnen sich die Konkurrenz der Neandertaler vom Halse schafften? Oder auf die zwei Millionen Jahre zurückliegende Lebenszeit von Homo habilis, von dem wir wahrscheinlich in direkter Linie abstammen? Aber müssen wir tatsächlich nicht noch viel weiter zurückgehen: bis zu den lemurenartigen Baumbewohnern, die wir als unsere stammesgeschichtlichen Ahnen anzusehen haben, oder bis zu den ersten amphibischen Eroberern des Festlands? Bis zur ersten kerntragenden Urzelle? Oder nicht sogar bis zum Urknall, mit dem bereits die ersten – die weitere Entwicklung einengenden – Voraussetzungen unserer damals noch in einer unendlich fernen Zukunft gelegenen Existenz geschaffen wurden?

 

Bei allen historischen, allen Entwicklungsprozessen überhaupt ist das die entscheidende Frage. Wenn ein Dämon die abendländische Geschichte bis zur Regierungszeit des Cheops zurückstellen und von da an von neuem ablaufen lassen würde, käme gewiß etwas anderes dabei heraus als das, was heute in unseren Geschichtsbüchern steht. Aber wie groß wären die Abweichungen im Wiederholungsfall?

 

Ganz und gar unwahrscheinlich (»statistisch unmöglich«) ist es, daß auch dann rund zwei Jahrtausende später in einer Stadt, die den Namen »Roma« trüge, ein Diktator namens »Caesar« von einem ehemaligen Freund »Brutus« bei einer Ratssitzung erstochen werden würde. Eine so exakte Wiederholung darf angesichts der »Offenheit« historischer Abläufe (und erst recht Namensgebungen) – was ja nichts anderes heißt als: angesichts der in hohem Maße von Zufällen bestimmten Charakteristik derartiger Abläufe – als ausgeschlossen gelten. Aber daß an den Küsten des Mittelmeeres auch nach einem erneuten zweitausendjährigen Anlauf Großmächte um Einflußsphären miteinander streiten würden, daß eine zunehmende Zentralisierung innerhalb der konkurrierenden Gesellschaften Diktatoren hervorbringen würde und ebenso Bestrebungen, deren Machtansprüchen notfalls mit Mordanschlägen entgegenzutreten, das wiederum wäre zu erwarten. Die vorgegebene Struktur der Kulisse – fruchtbare Küsten eines Meeres, dessen beschränkte Größe seine routinemäßige Durchquerung mit Ruder- und Segeltechniken gestattet – führt (fast) mit Notwendigkeit zu derartigen Konsequenzen.

 

Wenn wir in Gedanken noch weiter zurückgingen, könnten wir uns bei unseren Spekulationen jedoch nicht einmal mehr an solcherart vorgegebenen geologischen Bedingungen orientieren. Auch das Mittelmeer ist ja in einer bestimmten Phase des Erdaltertums erst entstanden – als Folge zufälliger plattentektonischer Verschiebungen, deren Ergebnis unvorhersehbar war. Bei einer Wiederholung von diesem fernen Punkt der Erdvergangenheit aus wäre der »Trichter« für zukünftige Möglichkeiten daher noch sehr viel weiter geöffnet als aus dem Blickwinkel des Pharao Cheops.

 

Es ist ein Gesetz: Je weiter man in der Erdgeschichte zurückgeht, um so größer ist die Zahl der noch offenstehenden Möglichkeiten. Und ebenso gilt umgekehrt: Je weiter die Entwicklung – sei es die des Kosmos oder die der Erde oder sei es die der biologischen Stammesgeschichte – bereits gediehen ist, um so mehr hat die Geschichte durch die von ihr hervorgebrachten Fakten ihren weiteren Verlauf selbst »kanalisiert«. Der die Vielfalt noch realisierbarer Möglichkeiten einschränkende Druck der Notwendigkeit nimmt immer weiter zu. Den vom Zufall produzierten Mutationen steht ein immer kleiner werdender Spielraum möglicher Passungen zur Verfügung. Kurz und knapp: Spezialisierung erschwert den Fortschritt. Deswegen halte ich den Namen, den die Experten dem entdeckten Phänomen des für alles Leben anscheinend maßgeschneiderten Universums gegeben haben (»anthropisches Prinzip«) auch für denkbar unglücklich. Hinter diesem Etikett versteckt sich doch wieder nur der seit Kopernikus überwunden geglaubte anthropozentrische Mittelpunktswahn. Denn »Anthropoi«, Menschen in dem uns geläufigen Sinne, waren es ganz sicher nicht, deren zukünftige Entstehung die Gravitationskonstante, die Expansionsgeschwindigkeit des Alls oder der konkrete Wert der Kernbindungskräfte schon in den ersten Sekunden nach dem Beginn der Zeit vorbereiteten. Daß dieses Universum dereinst mit Notwendigkeit Leben hervorbringen würde, das stand mit diesen (und einigen anderen) Naturkonstanten zwar damals schon fest. Soviel werden wir den bemerkenswerten Besonderheiten seines Anfangs mit einem gewissen Recht entnehmen dürfen. Daß wir selbst jedoch es sein würden, die dieses Leben verkörperten, und sei es nur auf der Erde, das war zu diesem Zeitpunkt noch prinzipiell unvorhersehbar. Das Ausmaß der historischen Offenheit für die zukünftige Entwicklung des eben erst geborenen Universums ließ damals noch eine uns unausdenkbare Fülle und Vielfalt möglicher Realisierungen des Lebens zu, auch des seiner selbst bewußten Lebens. »Vorherbestimmt« war unsere Existenz daher leider zu keiner Zeit.

 

Oder doch?

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