Ja, hat er. Gorbatschow hat wörtlich gesagt: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Wortwörtlich. Na, und? Ist das originell? Nein. Originell ist, was ein Korrespondent daraus machte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Das ging um die Welt. Dafür ist Gorbi nun berühmt. Für etwas, das er nie gesagt hat. „Hauptsache, der Name ist richtig geschrieben“, erklärte Curd Jürgens, von dem zu Lebzeiten alles und das Gegenteil von allem zitiert wurde. „Die erfunden Sprüche sind oft schlauer als das, was ich wirklich gesagt habe.“
So ergeht es vielen, und gerade den Großen. Wir wissen nicht, ob der Rabbi Joshua ein einziges jener Worte so gesprochen hat, wie es heute als Jesus-Wort zitiert wird. Das wenigste von dem, was in den Evangelien steht, gilt als authentisch. Und auch dieses wenige wurde erst dreißig Jahre nach seinem Tod aufgeschrieben, von Leuten, die ihn nicht persönlich erlebt hatten. Macht ja nichts! Bei Buddha ist es kaum besser. Mit der Aufzeichnung seiner Reden wurde dreihundert Jahre nach seinem Tode begonnen. Bis dahin wurden sie mündlich weitergegeben, nach dem großmütigen Prinzip „Stille Post“: Jeder erzählt die Version weiter, die er für richtig hält.
Warum auch nicht? Wichtig ist nichts davon. Keiner der heute kursierenden Sprüche von Martin Luther –„Hier stehe ich und kann nicht anders“, „Warum rülpset und furzet ihr nicht“, „Wenn morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch einen Apfelbaum pflanzen“- , keiner davon findet sich in seinen Schriften. Diese Worte sind später von anderen ersonnen und ihm zugeschrieben worden, nach dem freizügigen Motto: „Das hätte er auch sagen können.“ Das Wort „Wenn ich einen Furz lasse, soll man es bis Rom riechen“, das steht allerdings in seinen Schriften. Das ist echt.
Intelligent ist es deshalb noch nicht. Das gehört zu den sonderbaren Erfahrungen, die wir machen, wenn wir genauer nachforschen: Die weisen Leute haben bei weitem nicht so viel Weises geäußert, wie von ihnen zitiert wird. Vor allem waren sie nicht so wohlwollend und menschenfreundlich, wie ihre Aura suggeriert. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, schrieb Antoine de Saint-Expury. Bereits zu seinen Lebzeiten war das der Hit unter seinen Sprüchen. Auf jeder Party musste er sich dieses romantischen Zitats erwehren. „Ja, ja“, murrte er dann, „das können Sie jemandem sagen, dem sie auf die Brille getreten sind.“ Man soll Weise nicht mit ihren Weisheiten behelligen. Sie werden sonst sehr ungehalten. Vielleicht, weil sie lieber wahrhaftig als weise sind.
„Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt; genieße ihn, schon auf dem zweiten wirst du straucheln“, heißt eine pointierte chinesische Erkenntnis. In geblümten Spruchsammlungen wird immer nur die erste Hälfte wiedergegeben. Das Straucheln darf nicht vorkommen. Weil es der Lebenswirklichkeit zu nahe ist? Und weshalb heißt es immer hochtrabend „Niemand steigt zweimal in denselben Fluss“, während das griechische Wort „piptein“ im Urtext „fallen“ heißt? „Niemand fällt zweimal in denselben Fluss.“ Hatte Heraklit Humor? Natürlich! Alle Weisen hatten mehr Humor als die Poesiealben ihnen zugestehen! Sie wussten, dass ihre Weisheiten nicht wahr sind. Dass vielmehr die Erkenntnis von Hildegard von Bingen gilt: Von jedem Gedanken, der gedacht werden kann, ist auch das Gegenteil wahr.
Das ist ein tiefer mystischer Satz. Und er ist in jeder Lebenslage anwendbar. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben? Häufig bestraft es denjenigen, der zu früh kommt. Und belohnt denjenigen, der zu spät kommt, etwa zum Flugplatz, wo er den Flieger verpasst, der abstürzen wird. Von jedem Gedanken ist auch das Gegenteil wahr.
Kommentar schreiben
M. & Ronald (Dienstag, 18 April 2017 11:24)
Hallo Mario,
wir haben eben mit großem Interesse die Zeilen u. die Komentare gelesen. Wie wahr, man sollte stets hinterfragen u. seine eigene Meinung haben.
Auch der Mensch hat eine Vorder- u eine Hinderseite, meist ist die hinter dem Gesicht die wahre!!! Auch ein großes Thema. Mutti
p.s. von Ronald: ich bin beeindruckt von Deiner Gedankenvielfalt und dem großen Litaraturwissen,
"Hut ab" !!
Wir wünschen eine schöne Woche!
Friedemann WEITZ (Montag, 15 Mai 2017 23:44)
Sehr geehrte Mail-Verwaltung ( Wolzow vom Wolfsfelsen? "Mario"?),
auf der Suche nach Luthers F-RZ, der noch in Rom zu riechen sei, stosse ich auf diese Seite und lese:
"das steht allerdings in seinen Schriften. Das ist echt. " Laesst sich das auch belegen (gern auch ganz-ganz-genau: Buchtitel, Seitenzahl, Website ...)? Damit meine ich (ein wenig 'leidgeprueft' = genervt am = vom heutigen Abend) aber KEINE weiteren Behauptungen, es sei echt und stehe in seinen Schriften - einfach nur: WO steht es? Waer' toll (und wuerde einen skeptischen Zeitgenossen eines Besseren belehren, punktuell wenigstens ... :), wenn 'Sie' hier in der Sache weiterhelfen koennten ...
Mit freundlich-gespanntem Gruss
Ihr
Friedemann Weitz
Leutkirch i.A.
hmg.weitz@web.de
Mario (Dienstag, 16 Mai 2017 03:17)
Guten Morgen,
mit einer Seitenzahl kann ich nicht dienen, denn es ist drei Jahre her, das ich das Buch gelesen habe und da es geliehen war kann ich es jetzt auch nicht durchblättern, aber wohl mit dem Titel dienen:
"Wider das Papsttum in Rom, vom Teufel gestiftet"
Das Buch kann man für unter 10 Euro zum Beispiel bei AMAZON kaufen oder in einer Bibliothek leihen oder bei Zeno.org online lesen, hier der Link:
http://www.zeno.org/Literatur/M/Luther,+Martin/Traktate/Wider+das+Papsttum+zu+Rom,+vom+Teufel+gestiftet
So ich hoffe ich konnte ein wenig weiterhelfen und verbleibe
Ihr Wolzow vom Wolfsfelsen