
Eher zufällig ist Martin Bojowald vor rund zehn Jahren zu seinen heutigen Mitstreitern gestoßen. In einer Mathematikvorlesung an seiner Heimatuniversität in Aachen war am Rande von Einsteins
großem Werk die Rede gewesen. Im Physikstudium dagegen war es nie aufgetaucht.
Denn eigenartig: Es scheint, als wollten die Physikprofessoren ihren Studenten das Juwel ihres Fachs vorenthalten. Die Allgemeine Relativitätstheorie kommt im normalen Physikstudium oft überhaupt
nicht vor: Zu schwierig sei sie, so heißt es, und zu irrelevant für praktische Zwecke.
In der Tat hat sich Einstein mit seiner Gravitationslehre sehr weit in eine Welt vorgewagt, die der menschlichen Erfahrung kaum mehr zugänglich ist. Viele Studenten jedoch schreckt das wenig.
"Mich", sagt Bojowald, "hat besonders fasziniert, dass der Raum in der Relativitätstheorie eine ganz neue Rolle spielt." Der nämlich ist bei Einstein nicht mehr bloße Bühne des Weltgeschehens;
Raum und Zeit treten vielmehr selbst als Akteure auf.
Unter dem Einfluss jedes Körpers verbiegt sich in Einsteins Theorie der Raum in seiner Umgebung. Die Schwerkraft ist dann nichts anderes als die Wirkung, die diese Krümmung des Raums auf andere
Körper ausübt. Masse, Raum und Zeit bilden so ein sich wechselseitig bedingendes Ganzes. Beschrieben wird es von den Einsteinschen Feldgleichungen.
Gefürchtet und verehrt sind diese Formeln, elegant und äußerst tückisch, wenn es ans praktische Rechnen geht. Und doch bedürfen selbst diese Gleichungen, aller mathematischen Brillanz zum Trotz,
noch grundlegender Korrekturen. Denn so befriedigend sie auch den ewigen Umlauf der Planeten, das Kreiseln von Galaxien, ja sogar die Blähung des gesamten Kosmos beschreiben, so versagen sie doch
am Beginn allen Seins.
Nach rund 14 Milliarden Jahren der Expansion sei das Universum zu dem geworden, was es heute ist, so die Aussage von Einsteins Theorie. Doch wie ist das Ganze entstanden? Angesichts dieser Frage
kapituliert Einsteins Formelwerk.
Je näher darin der Anfang der Zeit rückt, desto mächtiger ballt sich die Materie, immer dichter presst sie den Raum zusammen, bis die Gleichungen schließlich im Strudel des Ursprungs nichts mehr
als bedeutungslose Unendlichkeiten ausspucken.
"Urknall" nennen die Physiker dieses pathologische Verhalten - und wissen dabei doch ganz genau: Der inzwischen so vertraut klingende Name kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Theorie hier
an ihre Grenze gelangt. Was, so fragt sich die Forschergemeinde um Bojowald, ist eine noch so schöne Theorie wert, die zwar die Geschichte des Kosmos richtig beschreibt, an dessen Anfang aber
nichts als Unsinn gebiert?
Immer wieder haben junge Physiker versucht, dem Mangel mit gewagten gedanklichen Kapriolen abzuhelfen. Keine Idee schien ihnen dabei zu absurd, um sie nicht wenigstens auszuprobieren - doch
vergebens, es blieb dabei: Im Urknall verlor alles Sein seinen Sinn.
Besonders hoch im Kurs standen zuletzt komplizierte Konstrukte, die unter dem Namen Stringtheorie selbst unter Laien Berühmtheit erlangt haben. Teilchen jedweder Art, gleichgültig ob Elektron,
Neutrino, Quark oder Photon, werden darin als Schwingungszustände aberwitzig winziger Saiten beschrieben. Alles Weltgeschehen stellt sich dar als eine phantastische kosmische
Stringsymphonie.
In den drei sinnlich erfahrbaren Raumdimensionen jedoch lassen sich die Stringgleichungen nicht formulieren; die Forscher waren gezwungen, dem Raum noch sechs oder sieben weitere Dimensionen
hinzuzufügen. Und weil diese sich in der wirklichen Welt nicht wahrnehmen lassen, wurden sie von den Stringforschern kurzerhand durch eine Art mathematischen Taschenspielertrick zu unsichtbar
winzigen Knäueln verschnürt.
Doch ist all das nicht nur ein großes mathematisches Glasperlenspiel? Lässt sich so wirklich der Welt ihr letztes Geheimnis entreißen?
Bojowald und seine Mitstreiter haben ihre Zweifel daran. Sie wollen auf andere Weise die Mängel des derzeitigen Weltbildes beheben. Nicht die Materie ist Ausgangspunkt ihres Denkens. Sie
beginnen, wie schon ihr großes Vorbild Einstein, mit dem Raum selbst.
Wenn schon die Materie aus kleinsten Teilchen besteht, so ihre Argumentation, könnte es dann nicht sein, dass der Raum, in dem sich diese Materie bewegt, ebenfalls aus einer Art kleinsten, nicht
weiter teilbaren Raumatomen zusammengesetzt ist? Ermutigt fühlen sie sich dadurch, dass sich durch geschicktes Hantieren mit den wichtigsten Naturkonstanten eine Art Elementarlänge errechnen
lässt.
Plancklänge wird sie genannt, und sie beträgt etwa 10-33 Zentimeter - eine unvorstellbar winzige Zahl. In einem einzigen Atomkern finden mehr dieser Raumatome Platz als Staubkörner im gesamten
Sonnensystem.
Als Bojowald sich vor gut zehn Jahren den Fragen der Gravitation zuwandte, da war es seinen heutigen Mitstreitern bereits gelungen, den Raum zu zerstückeln. Ihre Gleichungen erzeugten eine Art
Granulat aus Raum und aus Zeit. Eng verwoben wogt und wallt dieses Raum-Zeit-Geflecht, wenn es von der Wirkung einer Masse in Bewegung versetzt wird. "Schleifen-Quantengravitation": So hatten die
Forscher ihre Kopfgeburt getauft.
Doch erst Bojowald gelang es, sich mit Hilfe dieser Gleichungen bis zum Beginn allen Seins vorzutasten. Wie, so seine Frage, spielt sich ein Urknall in diesem Raum-Zeit-Gewebe ab? Und vor allem:
Würde er auch dieses Mal nur in sinnlose Unendlichkeiten münden?
Der Durchbruch, meint Bojowald, sei seiner Unkonzentriertheit zu verdanken gewesen. Noch sehr gut kann er sich an den Sommer des Jahres 2000 erinnern, als das nervende Zirpen der Grillen kein En-
de nehmen wollte und drückende Hitze seinen Kopf bis spät in die Nacht umnebelte. Der junge Forscher hatte gerade den Umzug von Aachen in die USA hinter sich, alles war neu für ihn hier an der
Penn State, und einige Wochen lang hatte für ihn einmal nicht die Physik allein im Mittelpunkt gestanden.
Wahrscheinlich sei nur so zu erklären, dass er, als er sich wieder an den Schreibtisch setzte, alle Sorgfalt fahrenließ und sich in Rechnungen stürzte, die eigentlich zu gar keinem vernünftigen
Ergebnis hätten führen dürfen: "Bei etwas klarerem Kopf hätte ich das wohl gar nicht erst versucht", sagt er heute.
Bojowald hatte Glück. Plötzlich schien sich alles zu fügen, und der Forscher erkannte, wie sich in seinen Gleichungen in groben Konturen die Geburt eines Universums abzuzeichnen begann.
Je weiter Bojowald die Zeit zurücklaufen ließ, desto höher sah er die Dichte wachsen. Irgendwann war in jedem Kubikzentimeter die Masse von Abermilliarden Sonnen vereint.
Dann aber, fast scheint der Urknall schon erreicht, verändert sich das Verhalten des Modell-Universums: Plötzlich weigert sich der Raum, sich noch weiter zusammenzuziehen. Einem Schwamm gleich
hat er sich bis zum Äußersten voll mit Energie gesogen.
Und dann geschieht es: Der Raum prallt an sich selbst ab.
Mehr noch: Als Bojowald die Uhr in seiner Modellwelt noch weiter bis vor den Ursprung zurückstellte, begann sich der Raum sogar wieder zu spreizen; das Universum, das sich gerade noch in einem
unaufhaltbar scheinenden Schrumpfprozess befunden hatte, schwoll wieder an.
Zweierlei war dem jungen Physiker damit gelungen: Er hatte seine Modellwelt heil durch den Urknall manövriert, ohne dass die Gleichungen zusammengebrochen waren. Und: Durch das Nadelöhr des
Raum-Abpralls hindurch war es ihm gelungen, einen Blick in ein Universum zu erhaschen, wie es vor dem Urknall existiert haben muss.
Viel kann Bojowald bisher freilich noch nicht über diese Welt vor unserer Welt sagen: "Das Einzige, was wir wissen, ist, dass das Universum vor dem Urknall offenbar invertiert war. Ähnlich wie
bei einem Luftballon, der verkehrt herum aufgeblasen nwird, war sozusagen das Innere nach außen gekehrt." Welche Bedeutung dies für das Dasein in dem eigenartigen Spiegeluniversum hatte? Das
vermag der Forscher nicht zu sagen.
Doch so spärlich auch Bojowalds Erkenntnisse noch sind, könnten sich seine Gleichungen doch als Beginn einer neuen Ära erweisen. Denn erstmals erlauben sie handfeste Aussagen über eine Welt
jenseits des bekannten Universums. Das ewige Vergehen und Entstehen von Welten könnte so Gegenstand beobachtender Forschung werden.
Helfen soll dabei eine neue Generation von Satelliten, die empfindlich wie nie zuvor Signale vom anderen Ende des Kosmos auffangen. Bereits im vergangenen Jahr Stellung bezogen hat das Fermi
Gamma-ray Space Telescope, das rätselhafte Blitze extrem hochenergetischer Strahlung am Himmel untersuchen soll.
Hinter sich haben diese Strahlen eine Durchquerung fast des gesamten sichtbaren Weltalls. Wenn aber der Raum tatsächlich, wie von den Schleifen-Quantentheoretikern angenommen, aus Raumatomen
besteht, dann müsste sich diese Körnung nach der weiten Reise in Form kleiner Laufzeitänderungen bemerkbar machen. Die Mikrostruktur des Raums lässt sich so also direkt unter die Lupe
nehmen.
Aber auch den Urknall selbst hoffen die Forscher schon bald beobachtend studieren zu können. Ein erster Schritt dorthin steht bereits im nächsten Monat auf dem Programm. Dann startet der
europäische Forschungssatellit "Planck".
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